Prof. Dr. Karl Lauterbach, MdB: "Gesund im kranken System"

Veröffentlicht am 27.05.2009 in Abteilung

Zu Beginn der Veranstaltung „Thierse trifft…“, mit der die von der SPD Kollwitzplatz am 26. Mai 2009 organisierte Buchvorstellung und Diskussion mit dem Bundestagsabgeordneten Prof. Dr. Karl Lauterbach kurzfristig zusammengelegt worden war, ließ sich der Nordrhein-Westfale Persönliches entlocken: In eine „lupenreine Arbeiterfamilie“ hineingeboren, habe er Medizin studiert, um „mit der guten Abiturnote etwas Nützliches zu machen“. Im Studium habe er aber bei der praktischen Erfahrung in der Chirurgie feststellen müssen, dass viele Operationen vermeidbar gewesen wären. Das in den USA erworbene Wissen in der Gesundheitsökonomie habe es ihm deshalb ermöglichen sollen, politisch zu argumentieren, das System zu verbessern und die Vorbeugemedizin zu stärken. Nach 10 Jahren in den USA sei ihm bei der Rückkehr dann deutlich geworden: In Deutschland gehe es weniger gerecht zu, als er dies geglaubt habe.

Außerdem sei die CDU, deren Konrad-Adenauer-Stiftung ihm das Studium in den USA finanziert hatte, inzwischen neoliberal geworden. Ihre Politik und Ziele deckten sich nicht mehr mit seinen sozialpolitischen Vorstellungen. Als er schließlich auch noch gemerkt habe, dass er bei seiner wissenschaftlichen Arbeit „die politischen Vorschläge der SPD großzügiger bewertete“, sei er konsequent von der Wissenschaft in die Politik gewechselt. Als Mitglied des Bundestags und im Ausschuss für Gesundheit geht es ihm vor allem darum, die „Zweiklassenmedizin“ zu beenden. In den Sitzungswochen fühlt er sich am Zweitwohnsitz im Prenzlauer Berg wohl, weil hier „die alteingesessenen Intellektuellen“ wohnen – wie er mit einem augenzwinkernden Blick auf seinen Gastgeber Wolfgang Thierse bemerkte.

In der Gesundheitspolitik verlören Krankenkassen und Politik in der Regel den Kampf gegen überflüssige, unwirksame und teilweise sogar schädliche Behandlungen: Die Hersteller profitierten von der Unsicherheit der Patienten und die Ärzteschaft spiele dabei aus verschiedenen Beweggründen oft eine schwierige Rolle. So werde die evidenzbasierte Medizin abgelehnt und unterstellt, zu teure Behandlungen sollten den Patienten vorenthalten werden. Kosten verursachten aber neben dem Pseudo- tatsächlich auch der echte Fortschritt und die Zahl der mehr als 200 Krankenkassen in Deutschland. Dabei könnten kleine Kassen für ihre Versicherten viel zu wenig erreichen. Medikamente, auch Generika, seien in Deutschland vergleichsweise zu teuer, und eine u.a. von der SPD geforderte Positivliste, die den Verbraucherschutz durch die Kostenübernahme nur für Medikamente mit wissenschaftlich belegtem Nutzen verbessern würde, scheitere am Widerstand der Länder mit Standortinteressen. Auch gebe es in Deutschland etwa doppelt so viele Apotheken pro Kopf wie in den – gut versorgten – Niederlanden. Schließlich gebe es – bei inzwischen reduzierten Liegezeiten – immer noch zu viele Krankenhausbetten. Dadurch würden auch komplizierte Eingriffe auf zu viele Einrichtungen verteilt, obwohl bestimmte Mindestmengen und Fallzahlen wichtig seien, um die Risiken des Eingriffs zu minimieren und eine Spezialisierung zu ermöglichen. Gerade bei schweren Fällen hätten privat Versicherte erhebliche Vorteile im Zugang zu Spitzenmedizin und bestmöglicher Versorgung.

Mi 4 Prozent der Gesamtmittel werde dagegen viel zu wenig für die Vorbeugemedizin ausgegeben, obwohl 80 Prozent der Krankheitsfälle hinausgezögert oder gar vermieden werden könnten. Im Medizinstudium spiele die Vorbeugemedizin eine unzureichende Rolle, und die Ärzte erhielten zu wenig Geld für Vorbeugung. Vor allem Haus- und Kinderärzte müssten hier besser gestellt werden. Außerdem müsse die Ärzteschaft besser mit der Studienlage und dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung vertraut sein. Die zuletzt eingeführten Chronikerprogramme seien ein Schritt in die richtige Richtung.
Die von der SPD vorgeschlagene Bürgerversicherung könne die Zweiklassenmedizin beenden und sei gerechter als das Alternativmodell der „Kopfpauschale“, die die Einkommensstarken entlaste und die Schwachen belaste. Wie bei der Bildung sei auch bei der Gesundheit die Chancengleichheit beim Zugang zur Versorgung von besonderer Bedeutung. Außerdem könnten die nötigen Veränderungen leichter durchgesetzt werden, wenn die Meinungsführer in Politik und Gesellschaft selbst auch zum System gehörten und selbst betroffen seien. Vorstellbar sei, dass über die Beitragsbemessungsgrenze hinaus der aus Steuermitteln finanzierte Anteil wachse. So könnten die Systemkosten vom Faktor Arbeit entkoppelt werden, und durch die Progression bei den Steuern bedeute dies eine gerechtere Umverteilung von oben nach unten.
Zum Abschluss des gut besuchten Zwiegesprächs lüftete der Gast das Geheimnis seines auf den Auslandsaufenthalt in den USA zurückgehenden Markenzeichens: Die Fliege habe sich im Vergleich mit der Krawatte als deutlich praktischer bei der Ersthilfe am Unfallort erwiesen!

 
 

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